Dagmar Manzel und Sylvester Groth in „Nach Tristan“ in Bayreuth

2022-07-30 00:31:53 By : Mr. Naron luo

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Dagmar Manzel (links) sang gerade „Im Treibhaus“ von Richard Wagner, Sylvester Groth schlief dabei ein. Bild: Enrico Nawrath

„Nach Tristan“: Dagmar Manzel und Sylvester Groth verbinden Heiner Müller und Richard Wagner. Dabei entsteht eine genießbare Kartoffelsuppe. Und Wagner klingt fast wie Klezmer.

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D en Jammerdepressionsrefrain der sogenannten kleinen Frau gibt’s gleich vorweg, als Motto sozusagen: „Is nich schön, aber kann man nichts machen“. Dagmar Manzel, die dem Volk aufs Maul zu schauen gelernt hat, murmelt ihn als Endlosschleife und mit manzelfachen Nuancen abgestumpfter Ergebung in die eigene Zukunftslosigkeit vor sich hin, während sie am Küchentisch Kartoffeln schält. Schließlich muss am Ende, wie jeden Tag, doch was zu essen auf dem Tisch stehen. Wird auch. Kartoffelsuppe nämlich, gestampft, gesalzen, mit Crème fraîche verrührt. Lässt sich sogar essen. Manzel und Sylvester Groth löffeln sie gemeinsam aus. Dabei singt Manzel, die Unvergleichliche, noch „Im Treibhaus“ aus den „Wesendonck-Liedern“ von Richard Wagner, ohne Begleitung, zielsicher die richtigen Kadenzen erreichend wie James Bond den Fahrersitz im Cabrio beim Absprung aus dem Helikopter. Das ist La Manzel: die ultimative Stuntwoman des deutschen Theaters!

„Salon vor der Französischen Revolution/Bunker nach dem dritten Weltkrieg“ hat Heiner Müller für sein Zwei-Personen-Stück „Quartett“ angegeben, nicht als Ort, das wäre ein Missverständnis, sondern als Zeitraum. Also spielen Manzel und Groth, die sich seit mehr als vierzig Jahren kennen, in einer Küche mit Ledersofa, die ihnen Jessica Rockstroh als Bühne im Kino „Reichshof“ in Bayreuth eingerichtet hat. Gespielt wird nicht „Quartett“, sondern „Nach Tristan“, aber beides hängt zusammen. Der Regisseur Ingo Kerkhof und sein Dramaturg Gerhard Ahrens haben für die Reihe „Diskurs Bayreuth“ der Bayreuther Festspiele eine Collage aus Wagners „Tristan und Isolde“, Müllers „Quartett“ und August Strindbergs „Totentanz“ zusammengetragen, die durch Manzel, Groth und den durchtrieben-erfinderischen Akkordeonisten Felix Kroll zu einem zynisch-traurigen Spaß von hoch artistischem Endzeit-Kabarett wird.

Müller hatte „Quartett“ nach Choderlos de Laclos’ Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ schon 1982 geschrieben, dann aber 1993, bei der Arbeit an seiner Inszenierung von Wagners „Tristan und Isolde“ in Bayreuth (mit Daniel Barenboim als Dirigenten) bemerkt, dass „Quartett“ wie eine Fortsetzung von „Tristan“ sei. Dazu müsse man nur davon ausgehen, dass Tristan und Isolde ein Paar geworden wären, denn, so Müller, niemand sehne sich wirklich nach dem Tod, „das wäre ja Unsinn und Romantik im schlechten Sinn. Nein, die Sehnsucht nach dem Tode ist die Sehnsucht nach einem anderen Leben“. Wäre ihnen aber das Leben miteinander anstelle des Sterbens geglückt, wären sie – so Müllers Hypothese – nach zehn Jahren Partnerschaft solch abgefeimte Zocker der Erotik geworden wie die Marquise de Merteuil und der Comte de Valmont im Roman von Laclos über die Dekadenz des Ancien Régime. „Tristan und Isolde“ wäre dann die Erinnerung an eine Vergangenheit, die mehr Zukunft kannte, mehr Inbrunst für Verwandlung und Veränderung als die Dialoge zweier hoffnungslos geistreicher Spieler mit den Herzen derer, die ihrem Erkenntnisstand gegenüber zurückgeblieben scheinen.

Manzel und Groth waren in der Schauspielschule im gleichen Jahrgang und hatten schon 1981 zusammen mit Bernd Böhlich ihren Debütfilm „Fronturlaub“ gedreht; Manzel selbst spielte die Madame de Merteuil 1991 am Deutschen Theater Berlin unter Müllers Regie. Beiden ist die virtuose Kenntlichmachung des Spiels im Spiel, das Neben-der-Rolle-Stehen während des In-der-Rolle-Seins, völlig in Fleisch und Blut übergegangen. Immer wieder streut Groth lässige Kommentare zum Spielablauf ein: „Da stimmt was nicht. Mit deiner Mütze stimmt was nicht“, womit er meint, dass Manzel die Perücke, dieses monströs gelockte Unding von Leibniz-Frisur, vergessen hat. An der nächsten Stelle grunzt er Manzel nur zu „Tränen“. Darauf sie: „Ja, warte, kommt gleich“, um dann auf tränenerstickte Stimme beim Verlesen eines Briefes umzuschalten.

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Kroll reißt am Akkordeon aus Wagners „Tristan und Isolde“ Fetzen irritierender Erinnerungen und verwandelt sie in slawisch anmutende Geschwindpolkas, die momentweise mit chassidischen Tänzen paarungsfähig wären. Zwischendurch singen Manzel und Groth in diesem Irrsinnswitz das Duett „Wie sind wir beide vornehm“ aus der Operette „Lieselott“ von Eduard Künnecke nach dem Text von Gustaf Gründgens. In den „Gefährlichen Liebschaften“ stecke auch eine Klamotte wie „Charleys Tante“, zitiert Gerhard Ahrens Heiner Müller. Gewiss, es ist eine saukomische Klamotte am Rand des Verreckens. Und man hält die Luft an, wenn Manzel und Groth je einmal zu krepieren drohen. Die Suppe ist Ausflucht aus dieser Kunst, ihr Verzehr geschenkte Zeit des Aufschubs.

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