Erpressung: Wie aus Herrn W. ein hinterhältiger Verbrecher wurde | STERN.de

2022-10-15 05:13:03 By : Mr. David yan

Er träumte von einem Leben in Italien, von der eigenen Eisdiele in Rom. Davon, mit dem Motorroller nicht mehr über den Marktplatz von Eschweiler zu fahren, sondern durch die Gassen der Ewigen Stadt. La Dolce Vita, wie von Fellini inszeniert, nicht die Tristesse des Aachener Hinterlands. 

Nur konnte er sich das süße Leben nicht leisten. Die Mahnungen seiner Schuldner stapelten sich daheim im Küchenregal. Was soll's, Axel W. flog nach Rom. Mehrfach war er für Wochen in Italien, hoffte, dort Arbeit zu finden. Oder eine Eisdiele. Oder sonst was mit Zukunft. Immer positiv denken! Auf Facebook postete er Fotos von sich auf dem Petersplatz, auf der Spanischen Treppe, am Strand von Ostia. Strahlend, braun gebrannt. Aus dem Jungen aus dem Braunkohlerevier machte er in seinem Profil einen "Single" "aus Rom" und gab sich einen neuen Namen, einen italienischen.

Heute sitzt Axel W. nicht auf dem Campo de' Fiori in der Abendsonne, sondern in U-Haft in der JVA Aachen. Wegen versuchter räuberischer Erpressung muss er sich vor dem Aachener Landgericht verantworten. 13 Erpresserbriefe hat der 50-Jährige geschrieben, seinen Opfern mit dem Tod ihrer Kinder gedroht. Kommende Woche wollen die Richter das Urteil verkünden. Dem geständigen Axel W. droht eine mehrjährige Haftstrafe. 

Am ersten Prozesstag kam Axel W. trotz dieser misslichen Lage so lässig daher wie Adriano Celentano, und die dunklen Haare waren mit Gel gen Himmel gezupft. Zeugen schilderten ihn so, wie er auch im Gerichtssaal wirkte: nett, lebensfroh, optimistisch und völlig unfähig, sein Leben zu organisieren. "Seine Persönlichkeit ist nur schwer in Einklang zu bringen mit seinen verwerflichen Taten", sagt sein Verteidiger Peter Schäfer. Bis auf eine Freundin wusste niemand etwas von seinen Geldsorgen, aber das Ausmaß seiner Schulden hatte er auch ihr verheimlicht – am Ende waren es fast 150.000 Euro.

Ins Trudeln geriet Axel W. bereits nach seiner Scheidung 1999. Damals übernahm der Vater von zwei Kindern alle Schulden, die auf der gemeinsamen Eigentumswohnung lagen. Die Raten, der Unterhalt, die Miete für seine neue Wohnung in Eschweiler fraßen sein Gehalt. Als er Anfang 2015 nach 28 Jahren seinen Job in einer Chemiefabrik verlor, ging gar nichts mehr. Die Eigentumswohnung wurde zwangsversteigert, die Schulden blieben.

Lange kämpfte er um eine Abfindung. Über 60.000 Euro netto bekam er am Ende. Axel W. kaufte sich eine neue Küche und einen Fernseher und fuhr nach Italien. "Ich habe nicht auf die Schulden geachtet, es war schön, mal nur zu leben, seinen Wunschtraum zu leben", sagte er. In Rom würde alles leicht sein, daran glaubte er fest.

Aber nichts wollte klappen, nicht einmal sein Plan von einem Fahrrad mit Hotdog-Grill. Er bewarb sich als Hausmeister am Deutschen Archäologischen Institut und als Fahrer an der deutschen Botschaft, vergebens. Seine Tochter beschrieb ihn vor Gericht als liebevollen Träumer: "Wenn ich damals mit meinem Vater sprach, dachte ich, ich rede mit jemandem, der so alt ist wie ich." Sein Sohn nannte ihn "etwas unreif". Mit seinem letzten Geld kehrte Axel W. zurück nach Deutschland. ­Allein seiner Krankenversicherung schuldete er inzwischen mehr als 8000 Euro.

So wurde der nette Axel W. zum Erpresser. Den ersten Brief verschickte er am 29. Mai 2016 an eine Adresse in Baesweiler bei Aachen. Darin heißt es: "Wie viel ist ihnen das Leben ihres Kindes wert? Wir beziffern den Wert in Euro auf 20.000 Euro. Wir sind ein Osteuropäisches Unternehmen, das Geld für Sicherheit verlangt." 

Unter dem Absender "Juri Gagarin" aus Stolberg forderte er die Adressatin auf, die 20.000 Euro in einer Plastikdose unweit der Autobahnauffahrt Eschweiler-Ost zu vergraben und die Stelle mit einer Porzellantasse zu markieren. Andernfalls werde es ihr Kind "ausbaden" müssen. "Wir hoffen auf eine gute Zusammenarbeit." Die Adresse schrieb er mit Kugelschreiber auf den Umschlag, frankierte ihn mit einer hübschen Oldtimer-Briefmarke. Warum er sich "Juri Gagarin" genannt habe, wollte der Richter von Axel W. wissen. Der echte Juri Gagarin war als sowjetischer Kosmonaut der erste Mensch im Weltall. "Ich dachte, Russen, das hört sich irgendwie böse an", sagte Axel W. Er scheiterte mit seinem Erpressungsversuch so kläglich wie mit seiner Eisdiele und dem Hotdog-Rad: Die Adressatin war kinderlos und glaubte an eine Verwechslung. Sie ging zur Polizei.

Aber es gab ja noch einen zweiten Erpresserbrief und somit Hoffnung. Axel W. hatte ihn an eine Aachenerin gesandt. Identischer Inhalt, Oldtimer-Briefmarke, ­Motiv Porsche 911 Targa. Doch die Mutter von längst erwachsenen Kindern dachte auch nicht daran, 20.000 Euro zu zahlen, und erstattete Strafanzeige. Die beiden Frauen hörten nie wieder von ihm.

Axel W. pausierte erst einmal als Erpresser. Über eine Zeitarbeitsfirma hatte er vorübergehend einen Job in einem Chemiewerk gefunden. Doch danach wurde seine Lage immer prekärer, selbst ihn verließ vorübergehend der Optimismus. "Jedes Mal, wenn es klingelte, habe ich überlegt: Machst du überhaupt auf? Denn da stand immer entweder der Gerichtsvollzieher oder der Vermieter." Sein Kühlschrank war leer, Italien fern.  

Da setzte sich Axel W. wieder an seinen Computer. Zwischen dem 29. November 2016 und dem 18. Januar 2017 verschickte er elf Briefe mit neuem Text und alter Drohung. Als Ablageort für die "wasserdichte Verpackung" wählte er nun die Böschung an einem Kreisverkehr unweit der Autobahnabfahrt Langerwehe, mit dem Roller gut zu erreichen. Diesmal sollte nichts schiefgehen. Die Böschung hatte er auf einem bei­liegenden Ausdruck von Google Maps mit einem Kreuz markiert und "Euro" danebengeschrieben. Er bat: "Selbst wenn die Verpackung in 4 Wochen da noch ­liegen sollte, bitte nicht entfernen."

"Sollten sie die Polizei Einschalten, ist das Leben ihres Kindes verwirkt", schrieb er. Absender war jetzt der Russe "Vitali Chenko", wohnhaft in Bergheim. "Ich hatte da im Fernsehen Vitali Klitschko gesehen", erklärte Axel W. dem Richter seine neue Identität. 

Wie sind Sie überhaupt auf Ihre Opfer gekommen?", wollte der Richter wissen. Er habe im Internet nach Ingenieuren gesucht und auf den Seiten nahe gelegener Golfklubs, sagte Axel W. Ausgespäht hat er seine Zielpersonen nicht – unter ihnen ein Statiker, ein Vermögensberater, ein Gewerbemakler und ein Handwerker. Die Wahl der Adressaten war nicht immer glücklich. Einige hatten keine Kinder. Einer, knapp 90, lebte im Pflegeheim, ein anderer war bereits tot. Die Erben brachten den Brief zur Polizei. Von einem seiner Opfer hatte Axel W. ein Bild mit Hund auf Facebook gesehen und daraufhin das Tier in seine Drohung einbezogen. Sollte nicht gezahlt werden, hätten Kind "und Hund" ihr Leben verwirkt.

Niemand zahlte, den Kindern passierte nichts, auch dem Hund geht es weiterhin gut. 

"Hätten Sie jemals weitere Druckmittel verwendet oder den Kindern etwas zuleide getan?", wollte der Richter wissen. "Um Gottes willen, nein!", sagte Axel W.

Die Opfer reagierten unterschiedlich auf die Drohungen. Einige hatten Angst und schlaflose Nächte. Andere brachte das Schreiben kaum aus der Ruhe. Da Axel W. geständig ist, ließ der Richter lediglich eines der Opfer als Zeuge aussagen. Der Chef eines Handwerksbetriebs, kaum weniger groß und breit als Vitali Klitschko, erzählte eindrücklich von seiner Angst um seinen 16-jährigen Sohn. Er habe ihn nicht mehr mit dem Bus in die Schule fahren lassen und ihn ständig angerufen. "Das ist Wahnsinn, was einem da durch den Kopf geht. Ich wünsche das keinem, einen solchen Brief zu bekommen."

Weitere Opfer von Axel W. saßen unter den Zuhörern: Thomas und Anja Rissmayer mit ihrem Sohn Leon, 16. Während der Vater die Drohung nicht sonderlich ernst genommen hatte, machte sich seine Frau Sorgen um Leon und seine Schwester. Und Leon? "Ich fühlte mich unwohl, es war ein komisches Gefühl. Ich hätte Polizeischutz erwartet nach so einem Brief." Sein Vater sagt: "Ich bin immer noch wütend auf den Mann, der meiner Familie Angst eingejagt hat. Das geht gar nicht. Ich war froh, dass meine Kinder beide Taekwondo gemacht haben, trotzdem habe ich noch Sachen zu ihrem Schutz bestellt, unter anderem Pfefferspray."

Am 5. Dezember 2016 legten Kripobeamte in der Böschung am Kreisverkehr eine präparierte Sporttasche ab und versteckten eine Wildkamera mit Bewegungssensor. Doch lange passierte nichts. "Mäuse, Füchse und Vögel kamen vorbei, aber nicht der Erpresser", sagte der Leiter der Ermittlungen am zweiten Prozesstag. 

Erst am späten Abend des 23. Januar tappte Axel W. in die Fotofalle. Von 23.26 bis 23.32 Uhr suchte er in einem Arbeitsoverall mit einer Taschenlampe die Böschung ab. Seine Augen leuchteten in der Nacht, wie bei einem Bambi. Am 26. Januar fingen ihn die Kameras erneut ein. Die Polizei ging mit den Bildern des Unbekannten an die Öffentlichkeit. Unter 40 Anrufern war die Tochter von Axel W. Sie sagte den Ermittlern: "Es tut mir leid, aber ich muss sagen, das ist mein Vater."

Axel W. wurde an seinem neuen Arbeitsplatz, einer Müllverbrennungsanlage, festgenommen, seine Wohnung, italienisch beflaggt, durchsucht. Dass er die Tat in seiner Vernehmung bestritt, nützte ihm nichts. Denn er hatte zwar die Erpresserschreiben bis auf eines mit dünnen Gummihandschuhen eingetütet, aber gleich mehrere Briefmarken und Klappen der Briefumschläge abgeleckt. Die Kriminaltechniker freuten sich über lupenreine DNA-Spuren.

Da konnte auch der Vorsitzende Richter nicht mehr an sich halten. "Das kann man ja sagen, das war ja total doof." Er sei "sehr aufgeregt" gewesen, erklärte Axel W. "Ich war vorher nicht kriminell. Ich hatte keine Ahnung, wie man das machen muss."

Der Richter fragte noch: "Was hätten Sie denn mit dem Geld gemacht?". Axel W.: "Ab nach Italien."

Der Artikel über Axel W. ist dem aktuellen stern entnommen:

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