Design-Marken setzen gerade alle auf Redesign - warum?

2022-10-15 05:15:17 By : Mr. Allen Li

Der italienische Designer Alessandro Mendini (1931–2019) wagte in den späten 1970er Jahren etwas Unerhörtes: Er verpasste dem bekannten «Wassily Chair» von Marcel Breuer einen neuen Look und prägte damit zugleich einen neuen Begriff: Redesign. Sein deklariertes Ziel war es, dem Entwurf durch Dekoration eine Seele einzuhauchen und so eine emotionale Bindung zum Gegenstand zu schaffen. Seine Eingriffe in die Designikone aus den 1920er Jahren waren durchaus nicht als Gag gemeint, Mendini wollte damit auch die Moderne kritisieren und sie gleichsam aus ihrer Starrheit befreien.

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Die Überarbeitung eines bestehenden Entwurfs muss nicht zwingend einer Kritik entspringen, doch das Phänomen führt vor, dass Design eben wandelbar ist. Ob der Zweck der Transformation eine Botschaft beinhaltet, wie dies Mendini damals bei seinen Redesigns vorschwebte, ist dabei sekundär. Eine Überarbeitung kann nämlich auch ganz praktische Gründe haben: etwa eine Verbesserung des Komforts oder die Wahl ökologisch vertretbarer Materialien. Auch das Einführen neuer Farben oder Stoffqualitäten kann zu einem Redesign gehören.

Ganz deutlich wird dadurch: Kreativität bedeutet nicht, dass alles neu erfunden werden muss. Ganz allgemein gesprochen: Der Fortschrittsglaube ist immer noch verbunden mit der Idee eines «mehr von . . .» oder mit dem Schlagwort der Innovation; aber manchmal erweist sich ein In­nehalten und Zurückschauen als die sinnvollere und vor allem als die nachhaltigere Strategie – nicht nur im Design.

Die Vorsilbe «re» beim Redesign indiziert eine Wiederholung, eine Re-Lektüre der Vergangenheit. Es geht um einen Umgang mit dem eigenen Erbe. Diese Geste des Zurückblickens muss keineswegs mit einer nostalgischen Überhöhung der Vergangenheit oder mit der Angst vor der Zukunft einhergehen. Sie zeugt auch nicht von einem Mangel an Ideen: Die Wiederholung ist in diesem Falle eine Form der Würdigung. Das ist auch beim Phänomen Re-Edition nicht anders.

Natürlich hängen diese Revivals generell mit der zyklischen Wiederkehr von Moden zusammen. Oder mit einem gesellschaftlichen Wandel. Dass etwa die Pandemie oder die Klimakrise auch auf Design einen Einfluss haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Dem Design steht zurzeit der Sinn nach Neuorientierung, und das ist gut so. Der Blick in die Vergangenheit kann diese Tendenz aber sehr gut unterstützen.

Am diesjährigen Salone del Mobile in Mailand, der international wichtigsten Messe für Interior Design, war dieser Blick in der Tat omnipräsent. Nicht nur wurden einige Jubiläen gefeiert: Die Sitzmöbel «Le Bambole» von Mario Bellini für B&B Italia können auf 50 Jahre, das Regalsystem «Zenit» von Giuseppe ­Bavusio für Rimadesio auf 25 Jahre zurückblicken. Man begegnete auch einer ganzen Palette von miteinander verwandten Begriffen. Neben «Redesign» sprachen die Hersteller von «Update» oder «Reinterpretation». Und die Kollektionen trugen Namen wie «Heritage Collection» (Molteni), «True Evolution» (Poltrona Frau) oder «Reborn Project» (Ginori/Nilufar).

Man orientiere sich mit der Überarbeitung von Möbeln an der Tradition, hiess es etwa bei Flexform; so geschehen beim Stuhl «Moka», der 1939 entworfen und 1985 Teil der Kollektion wurde. 2019 wurde er für den Outdoorbereich upgedatet. Auch das Sofa «Goodman» von Rodolfo Dordoni für Minotti steht zugleich für Zeitlosigkeit und Eleganz. Inspiration war eine Siebziger-Jahre-Matrix.

Interessanterweise kamen einem keine dieser mit solchen Attributen beschriebenen Entwürfe veraltet vor. Vielleicht ist es ja auch das, was gutes Design ausmacht: aus der Zeit zu fallen. Umgekehrt kann es auch sein, dass ein in Verruf geratener Stil plötzlich wieder aktuell wird. Wobei es unser Blick ist, der ihn dazu macht.

Wer hätte gedacht, dass ein so ausgefallenes Stück wie das Sofa «Tramonto a New York», das Gaetano Pesce 1980 für Cassina entwarf und das eine Skyline samt Sonne darstellt, wieder ­salonfähig wird? Mehr als 40 Jahre nach seiner Entstehung legt Cassina diese Ikone der 1980er Jahre in einer limitierten Edition von 50 Stücken aus nachhaltigen Materialien wieder auf. Auch die Grösse wurde heutigen Bedürfnissen angepasst.

Wie das meiste auf dieser Welt funktioniert auch Design nicht nach einem simplen Schwarz-Weiss-Muster. Extravaganz und Funktionalität, Erneuerung und Kontinuität sind nur vermeintlich Gegensätze. Den Ideenreichtum von Gestalterinnen und Gestaltern müsste man vielmehr als etwas Fliessend-Lebendiges beschreiben. Eine schöne Metapher für den kreativen Prozess hat der italienische Designer Martino Gamper gefunden. Er nennt seine Serie neuster Stücke für die Mailänder Galerie Nilufar «Innesto (Rubbing Up the Wrong Tree)» und bedient sich dafür eines Fachausdrucks aus der Landwirtschaft: «Innesto» bedeutet auf Italienisch «Veredelung», also eine Form der künstlichen Vermehrung bei bestimmten Pflanzen. Dabei kann und soll der neue Pflanzenteil vom «Original» abweichen und neue Eigenschaften oder andere Erscheinungen annehmen.

Eine solche Transformation geschieht auch bei der Kollektion von Gamper. Der Designer verwendete alte englische Möbelstücke und liess diese gleichsam weiterwachsen: Durch Metallzusätze erhalten die Entwürfe einen zeitgenössischen Ausdruck. Dieser Ansatz ist typisch für die künstlerische Praxis des Südtirolers. Es geht dabei um weit mehr als um Recycling, vielmehr beweist Gamper mit dieser Arbeit für die Nilufar Gallery seinen tiefen Respekt vor der Geschichte. Und sie zeigt, wie diese Haltung zu Objekten führen kann, die Vergangenes auf gelungene Art und Weise revitalisieren.

Mehr denn je gilt das Stöbern in den Archiven nicht als Rückwärtsgewandtheit, sondern als legitime Inspirationsquelle. Gerade in den Schubladen vieler italienischer Hersteller schlummern nie umgesetzte Entwürfe, aber auch solche, die in Vergessenheit gerieten. Es wäre schade, diese Schätze nicht zu heben. Schon seit längerem tut dies Molteni mit seiner «Heritage Collection», die das Können alter Meister wieder ans Licht der Öffentlichkeit holt. Zu diesem Zweck arbeitet die Firma mit den historischen Archiven von Designern und Architekten wie etwa denjenigen von Gio Ponti oder Ignazio Gardella zusammen.

Ein Blick auf die landeseigene Designkultur offenbart, dass Schweizer Hersteller ebenso aus der Vergangenheit schöpfen. De Sede etwa präsentierte am Salone ein Redesign des «DS-800» von Ubald Klug. Der Sessel hat etwas von einer schützenden Hand. Auch das Lausanner Trio Big-Game liess sich für seinen Bürostuhl «Giroflex 150» von Stuhlentwürfen aus Holz aus der Vergangenheit inspirieren, auf die sie in den Archiven von Giroflex gestossen waren. Der Stuhl zum 150-jährigen Bestehen der Firma entstand in Zusammenarbeit mit der japanischen Marke Karimoku New Standard.

Obwohl die Schweiz nicht gerade als Epizentrum des Designs gilt, kann sie auf eine lange Tradition zurückblicken. Gerade was die Herstellung von Aluminiummöbeln betrifft, gehört unser kleines Land zu den Pionieren. Ein Beispiel für einen Schweizer Produzenten, der sich von einem kleinen Handwerksbetrieb zu einem wichtigen Protagonisten der helvetischen Designkultur entwickelte, ist die 1922 gegründete Manufaktur Lehni. Auch sie legt zur Feier des Jubiläums eine Sonderausgabe einer Leuchte aus den 1970er Jahren auf.

Das Wort Wiedergeburt, das letztes Jahr anlässlich des Formats «Supersalone» nach einem Jahr pandemiebedingter Pause in Mailand heraufbeschworen wurde, mag auf den ersten Blick als Marketingfloskel daherkommen. Doch andersherum ist das Bild der ewigen Wiederkehr vielleicht ehrlicher als die Idee einer linearen Weiterentwicklung. Stühle bleiben Stühle, auch wenn sie uns stets als neu verkauft werden.

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