»Wir brauchen einen langen Atem«

2022-07-01 20:33:30 By : Ms. Amy Wang

Tausende Ukrainer sind seit Kriegsbeginn in Gießen angekommen. Das stellt auch die Stadt vor Herausforderungen.

Gießen . Gerade einmal 285 Menschen mit ukrainischem Pass lebten vor dem 24. Februar in Gießen. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges sind Tausende hinzugekommen. Wie die Stadt mit dieser Herausforderung umgeht, war nun Thema der Pressekonferenz des Magistrats: Man könne zwar auf viele Erfahrungen aus 2015 zurückgreifen, sagte Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher (SPD). »Aber manches ist deutlich anders.« Zum Beispiel konnten sich Ukrainer bereits vor Kriegsbeginn bis zu 90 Tage ohne Visum in Deutschland aufhalten und entgegen der eigentlich geltenden Dublin-Verordnung wird den ukrainischen Geflüchteten Freizügigkeit gewährt. Im Gegensatz zu 2015 führen also viele Wege nach Gießen.

Der Großteil der Ukrainer - derzeit über 3000 - ist in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes (EAEH) untergekommen. Von dort werden sie nach und nach auf einzelne Kommunen in Hessen verteilt. 576 weitere haben privat ihren Wohnsitz in Gießen angemeldet - etwa, weil sie bei Verwandten oder Freunden untergekommen sind. Drittstaatler, die aus der Ukraine geflohen sind, sind hierbei nicht berücksichtigt.

Wer sich im Stadtbüro anmeldet, bekommt noch vor Ort ein Dokument ausgestellt, mit dem etwa Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beantragt werden kann. Ihren elektronischen Aufenthaltstitel haben die ersten Ukrainer nach circa vier Wochen erhalten, berichtete Stadträtin Astrid Eibelshäuser (SPD) und betonte: »Das wird jetzt schneller gehen. Am Anfang mussten viele Fragen geklärt werden.« Um die Mehrarbeit bewältigen zu können, hat die Stadt neue Zuständigkeiten geschaffen. Vieles sei »noch im werden«, nicht alles laufe glatt, räumte der Oberbürgermeister ein.

Im Stadtbüro bekommen die Menschen zudem eine Mappe, in der Anlaufstellen und Informationen zu verschiedenen Themen sowohl auf Deutsch als auch auf Ukrainisch gesammelt sind. Die Unterlagen sind auch online gebündelt.

Für die Menschen, die keine Kontakte in Gießen haben oder dort nicht dauerhaft bleiben können, müssen Unterkünfte gefunden werden. Bislang haben Privatpersonen mehr als 130 Unterkunftsmöglichkeiten in der Stadt beim Landkreis gemeldet. »Das Angebot reicht vom Schlafsofa bis zum Haus«, verdeutlichte Julia Hettenhausen vom Büro für Integration. Zwar sammelt der Landkreis die Unterkünfte, die Stadt kläre aber mit den Anbietern die Details ab. Anschließend gelte es, aus der Liste der in Gießen gemeldeten Unterkünften das Passende zu finden.

Unter den Geflüchteten sind auch Kinder und Jugendliche, die ohne Elternteil in Deutschland ankommen und beispielsweise mit Nachbarn oder Verwandten unterwegs sind. In dem Fall prüfe das Jugendamt zunächst, ob die Eltern diesen Personen das Sorgerecht übertragen haben und ob sie geeignet sind, sich um die Minderjährigen zu kümmern, erläuterte Stadträtin Gerda Weigel-Greilich (Grüne). Ziel sei es, die Kinder und Jugendlichen möglichst nicht von ihren Begleitern zu trennen, sagte der Oberbürgermeister: »Wenn die Situation stabil ist, ist das für alle Beteiligten sinnvoller.«

Spielkreise statt Kita-Plätze

Seit dem 12. März wurden 15 unbegleitete minderjährige Geflüchtete vorläufig in Obhut genommen, von denen zehn im St. Stephanus Kinder- und Jugendhilfeverbund des Caritasverbandes untergebracht wurden. Wie Stadträtin Weigel-Greilich mitteilte, wollen diese Kinder und Jugendlichen dauerhaft in Deutschland bleiben, hier Schule und Ausbildung absolvieren.

Da die ersten Geflüchteten laut Weigel-Greilich bereits Jobangebote erhalten haben, stellt sich auch die Frage nach der Kinderbetreuung. Doch auch ohne den ukrainischen Nachwuchs sind Kita-Plätze in Gießen knapp. Die Stadt will laut Becher zusammen mit beispielsweise Familienzentren und Vereinen Spielkreise für Kinder im Kita-Alter anbieten und plant Freizeitangebote für ukrainische Kinder und Jugendliche.

Zu den fehlenden Kita-Plätzen kommt die Masernimpfpflicht: Kinder ab zwei Jahren müssen für den Kita-Besuch doppelt geimpft sein. In der Ukraine sei die zweite Impfung jedoch erst im Alter von sechs Jahren vorgesehen, erläuterte Julia Hettenhausen. Furcht vor einer Masern-Ausbreitung in Folge des Krieges muss man allerdings nicht haben: Laut Robert-Koch-Institut bietet bereits die Erstimpfung einen Schutz von über 90 Prozent.

Ältere Kinder und Jugendliche sollen in Seiteneinsteigerklassen Deutsch lernen, später ist der Wechsel in den Regelunterricht vorgesehen. Laut Stadträtin Eibelshäuser will man den Schülern auch die Möglichkeit geben, am Onlineunterricht in ihrem Heimatland teilzunehmen. Das laufende Schuljahr ende in der Ukraine Ende Mai.

Die Aufnahme der Geflüchteten wirkt sich auch auf den Haushalt der Stadt aus - schließlich hat niemand die kriegsbedingten Mehrausgaben durch Kinderbetreuung, Dolmetscher und Co. im Etat eingeplant. Wie teuer es für die Stadt letztendlich wird, könne man noch nicht abschätzen, sagte Bürgermeister Alexander Wright (Grüne). »Wir hoffen auf Unterstützung vom Land. Aber die Stadt geht in Vorleistung.«

Unklar ist auch, wie lange die Geflüchteten überhaupt in Gießen bleiben. Der Oberbürgermeister jedenfalls rechnet nicht damit, dass die Menschen zeitnah in ihre Heimat zurückkehren können: »Die weitere Entwicklung ist noch gänzlich ungewiss. Ich bin mir sicher, dass wir einen langen Atem brauchen werden.«